US-Clouds gefährden niederländische Datensouveränität
| von Redaktion

DEN HAAG · Die Abhängigkeit niederländischer Behörden von US-Cloudanbietern nimmt bedrohliche Ausmaße an. Wie eine umfangreiche Analyse der NOS zeigt, betreiben mehr als 1700 staatliche und kritische Organisationen in den Niederlanden ihre digitalen Infrastrukturen ganz oder teilweise über amerikanische Clouddienste wie Microsoft und Google. Die Konsequenz: E-Mails von Behörden, Bewerbungen für den öffentlichen Dienst und sogar Daten kritischer Infrastrukturen können potenziell von US-Behörden eingesehen oder blockiert werden. Trotz bekannter Risiken und wachsender internationaler Spannungen bleibt ein radikales Umdenken bislang aus.
Die Recherche des niederländischen Rundfunksenders NOS zeigt in alarmierender Deutlichkeit, wie tief niederländische Behörden, Ministerien und Unternehmen bereits in den Infrastrukturen amerikanischer IT-Giganten verankert sind. Von insgesamt 1722 untersuchten Webseiten öffentlicher Stellen und kritischer Firmen nutzt der Großteil Clouddienste aus den USA – insbesondere Microsoft. Besonders kritisch wird dies im Hinblick auf das Abhörpotenzial amerikanischer Geheimdienste, die laut geltender US-Gesetzgebung auch auf Daten zugreifen dürfen, die physisch außerhalb der Vereinigten Staaten gespeichert sind. Die Konsequenzen sind nicht nur theoretischer Natur: Die USA haben bereits in mehreren Fällen E-Mail-Zugänge europäischer Behörden gesperrt oder beeinträchtigt – etwa im Fall des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag.
US-Clouds als Standard in Ministerien, Gemeinden und Infrastruktur
Von den 15 niederländischen Ministerien nutzen neun Clouddienste von Microsoft, wie die NOS berichtet. Auch bei der Kommunikation der Zweiten Kammer (Tweede Kamer), den Sicherheitsregionen sowie bei der Finanzmarktaufsicht AFM laufen E-Mails über US-Server. Besonders brisant: Selbst kritische Infrastruktur - darunter Telekomprovider, Banken und Energieversorger - hosten ihre E-Mails überwiegend bei Microsoft oder Google. Laut NOS werden bei 69 von 97 untersuchten Organisationen E-Mails über US-Clouds versendet.
Gemeinden und Provinzen fast vollständig auf Microsoft angewiesen
Die Dominanz der US-Anbieter beschränkt sich nicht nur auf Ministerien. Nur eine einzige niederländische Gemeinde, Hardinxveld-Giessendam, verzichtet vollständig auf Clouddienste aus den USA. Alle anderen Städte und auch sämtliche Provinzen sind in irgendeiner Form mit Microsoft-Diensten verbunden. Die Vereniging Nederlandse Gemeenten (VNG) beurteilt die Risiken als „begrenzt“ und verweist auf die Zuverlässigkeit der Dienstleister. Aus technischer Sicht ist jedoch das Risiko hoch, dass US-Behörden Daten abfangen oder den Zugriff sperren können.
Zugriff durch US-Behörden rechtlich verankert
Die gesetzlichen Grundlagen für diesen Zugriff sind eindeutig: Seit 2018 erlaubt ein US-Gesetz explizit, auch auf Daten außerhalb der USA zuzugreifen, sofern sie auf Servern amerikanischer Unternehmen gespeichert sind. Microsoft selbst bestätigt gegenüber der NOS, dass ein Gerichtsbeschluss ausreicht, um Daten auch aus der EU auszulesen - betont jedoch, dass das Unternehmen in solchen Fällen regelmäßig rechtlich dagegen vorgeht.
Reale Folgen: ICC-Akten gesperrt, Bankkonten eingefroren
Dass diese Risiken keine Theorie bleiben, zeigt der Fall des Internationalen Strafgerichtshofs. Nachdem dieser Haftbefehle gegen israelische Politiker erlassen hatte, reagierte die US-Regierung mit Sanktionen. Folge: Microsoft sperrte den E-Mail-Zugang des Chefanklägers, Bankkonten wurden eingefroren, Kooperationspartner zogen sich aus Angst vor Konsequenzen zurück. Das Verfahren zur Untersuchung von Kriegsverbrechen in Sudan kam dadurch zum Erliegen.
Historische Parallelen und Warnungen von Experten
Technologiedeskundige Bert Hubert zieht einen Vergleich mit der Situation des frühen 20. Jahrhunderts, als die britische Regierung Telegramme zwischen den Niederlanden und Indonesien abfing. Hubert warnt: Heute seien nahezu alle Ministerien gezwungen, ihre Kommunikation über amerikanische Plattformen abzuwickeln. Er fordert daher eine „Cloud Kootwijk“ – ein niederländisches Datenzentrum, das die digitale Unabhängigkeit wiederherstellt.
Alternative Ansätze stoßen auf Widerstand – nicht an technische Grenzen
Einige Universitäten versuchen sich bereits an einem digitalen Gegengewicht. Die Universität Amsterdam testet derzeit mit anderen Einrichtungen die Open-Source-Lösung Nextcloud. Diese gilt zwar als weniger funktionsreich als Microsoft-Produkte, bietet jedoch ein deutlich höheres Maß an Datensouveränität. Gleichzeitig widersprechen niederländische IT-Anbieter wie Exonet der Behauptung, europäische Lösungen könnten mit den sogenannten Hyperscalern aus den USA technisch nicht mithalten. Jesper Weiland, Inhaber von Exonet, kritisiert diese Argumentation auf LinkedIn: „Was SIDN braucht, können wir vollständig liefern. Dafür braucht es keinen Hyperscaler.“ Seiner Einschätzung nach übertreiben viele Organisationen bewusst ihre Anforderungen, um die Entscheidung für große US-Anbieter zu rechtfertigen.
SIDN – die Stiftung zur Verwaltung des niederländischen Domainnamensystems – steht exemplarisch im Zentrum der Debatte. Ihre Pläne, Teile des .nl-Domainregisters an Amazon Web Services (AWS) auszulagern, riefen erhebliche politische Kritik hervor.
Parlamentarische Debatte und SIDN-Kontroverse
In der Politik wächst der Widerstand. Abgeordnete von GroenLinks-PvdA, VVD und NSC fordern, dass die DNS-Infrastruktur des .nl-Domainregisters vollständig in den Niederlanden verbleibt. Das geplante Outsourcing an AWS durch die Stiftung SIDN stieß auf breite Kritik. Zwar ist das Projekt aktuell auf einen begrenzten Teil beschränkt, doch das Parlament verabschiedete eine Motion gegen die Auslagerung. Die Regierung erklärte jedoch, die Unabhängigkeit der Stiftung respektieren zu wollen.
Wirtschaftliche Abhängigkeit und Mangel an Alternativen
Laut der Technologiedenkfabrik Clingendael besteht die Hauptursache für die Dominanz der US-Clouds in fehlenden europäischen Alternativen. Besonders im Bereich der Benutzerfreundlichkeit seien Microsoft und Google weit voraus. Die Investitionen der niederländischen Regierung in die IT fließen jedoch weiterhin vorrangig in nicht-europäische Anbieter – ein Umstand, den Clingendael scharf kritisiert. Nur durch staatlich gelenkte Investitionen könne Europa wettbewerbsfähige Dienste entwickeln.
Medien, Schulen und sogar KPN betroffen
Selbst niederländische Medienhäuser wie NOS, DPG Media und NPO nutzen überwiegend Microsoft- oder Google-Server. Auch bei Schulen dominiert Microsoft, gefolgt von Google. Besonders pikant: Der Telekomkonzern KPN – selbst Anbieter von Clouddiensten – speichert seine eigenen E-Mails bei Microsoft, wie NOS herausfand.
Forderung nach europäischer Souveränität
Die niederländische Abhängigkeit von US-Cloudanbietern betrifft nahezu alle Lebensbereiche – von Ministerien über Stadtverwaltungen bis hin zu kritischen Infrastrukturen. Die Risiken reichen vom unbemerkten Mitlesen sensibler Kommunikation bis hin zur gezielten Sperrung ganzer Systeme. Die Forderung nach digitalen Alternativen und einer europäischen Cloud-Souveränität wird lauter – bislang jedoch ohne durchschlagende politische Konsequenzen.
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