Sexualerziehung entgleist: Angst, Glaube, Zensur?
| letzte Änderung 31.03.2025 11:02 | von Redaktion

UTRECHT · Gesellschaftlich aufgeladenes Thema mit wachsender Polarisierung: In den Niederlanden beginnt heute die zwanzigste Ausgabe der „Week van de Lentekriebels“, einer Themenwoche zur sexuellen Bildung an Grundschulen. Doch was einst als moderne Aufklärung gedacht war, spaltet zunehmend die Gesellschaft. Fast jede zweite Schule erlebt mittlerweile elterlichen Widerstand gegen Sexualkunde – eine Verdopplung seit 2022. Beschwerden, Abmeldungen vom Unterricht und sogar Drohungen gegen Lehrkräfte zeigen: Zwischen gesetzlichem Bildungsauftrag und individuellen Weltanschauungen tobt ein Kulturkampf, der bis tief in die Klassenzimmer reicht.
Die Diskussion um die „Week van de Lentekriebels“ ("Woche der Frühlingsgefühle") steht exemplarisch für die gesellschaftliche Spannung zwischen moderner Sexualpädagogik und konservativen Weltbildern. Laut einer Umfrage von Rutgers und DUO Onderwijsonderzoek & Advies, über die unter anderem NRC und RTV Utrecht berichten, sehen sich inzwischen 46 Prozent der befragten Grundschulen mit Einwänden von Eltern konfrontiert. 2022 waren es noch 19 Prozent. Besonders bei Themen wie Geschlechterrollen, Genderdiversität oder sexueller Vielfalt sei die Ablehnung groß, wie NRC schreibt. Die Maßnahmen reichen von Abmeldungen einzelner Kinder vom Unterricht bis hin zum vollständigen Schulwechsel, wie das AD meldet. In Einzelfällen wurden sogar Lehrkräfte oder Schulleitungen bedroht. Schulleitungen nennen als Ursachen des Widerstands vor allem Angst, religiöse oder kulturelle Hintergründe sowie gezielte Desinformation in Medien – so berichtet es RTV Utrecht. Dennoch halten laut NRC 96 Prozent der Schulen an sexualpädagogischer Bildung fest – oft auch jenseits der Projektwoche.
Die Wurzeln des Widerstands
Auffällig ist, dass es häufig nur ein kleiner Kreis von Eltern ist, der mit großem Nachdruck gegen die Sexualkunde vorgeht. Laut RTV Utrecht sind es oft nur ein bis fünf Eltern pro Schule, die mit Beschwerden an die Schulleitung herantreten. Trotzdem hat dieser kleine Anteil teils großen Einfluss: Laut AD halten viele Eltern ihre Kinder während der Unterrichtseinheiten zu Hause oder fordern eine Ausnahmegenehmigung. In einigen Fällen wurden sogar Lehrer bedroht oder Kinder auf andere Schulen geschickt. Wie das AD weiter berichtet, sagen 37 Prozent der befragten Schulleitungen, dass der Widerstand in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Besonders kontrovers ist die Debatte rund um geschlechtliche Vielfalt und die Frage, wie früh Kinder mit diesen Themen konfrontiert werden sollten – oft auch ausgelöst durch kursierende Falschinformationen in sozialen Netzwerken.
Zwischen Bildungsauftrag und elterlicher Kontrolle
Gesetzlicher Rahmen, gesellschaftlicher Widerstand
In den Niederlanden sind Schulen gesetzlich verpflichtet, Sexualerziehung anzubieten – vergleichbar mit den Unterrichtspflichten in Sprache oder Mathematik. Diese Verpflichtung ist in den sogenannten „kerndoelen“ verankert, wie in der offiziellen Informationsbroschüre zur Lentekriebels-Woche betont wird. Dort heißt es, Schulen müssten Kindern helfen, ein positives Selbstbild, gesunde Grenzen und ein Verständnis für zwischenmenschliche Beziehungen zu entwickeln. Inhaltlich geht es um altersgerechte Themen – von Körperwahrnehmung über Freundschaft und Verliebtsein bis zu Pubertät und Respekt gegenüber anderen. Die Projektwoche „Week van de Lentekriebels“ ist dabei ein ergänzendes Angebot und wird derzeit von rund einem Drittel der Grundschulen aktiv genutzt – 2022 waren es noch 43 Prozent, wie RTV Utrecht mitteilt. Der Rückgang ist teilweise auf wachsenden Widerstand zurückzuführen.
Konservative Kampagnen, politische Empörung
Besonders scharf wurde die gesellschaftliche Diskussion durch politische Akteure befeuert. Wie NRC schreibt, stellte Thierry Baudet, Parteichef von Forum voor Democratie, bereits 2022 parlamentarische Anfragen zur vermeintlichen „Sexualisierung von Kindern“ in Grundschulen. Unterstützung erhielt er von anderen konservativen Parteien wie PVV, SGP und Denk, die öffentlich strengere Regulierungen forderten. Parallel dazu verbreitete die Stiftung Civitas Christiana manipuliertes oder erfundenes Unterrichtsmaterial über soziale Netzwerke. Diese konservative Gruppe aus Veenendaal steht im Zentrum eines laufenden Gerichtsverfahrens, nachdem Rutgers rechtlich gegen die falschen Darstellungen vorgegangen ist – die Entscheidung des Richters wird laut RTV Utrecht am Donnerstag erwartet. Viele der kursierenden Inhalte stammten nicht aus dem offiziellen Lehrmaterial wie „Kriebels in je buik“, sondern wurden aus dem Kontext gerissen oder gezielt verändert, wie auch NRC berichtet.
Die Stimmung kippt: Schulen ziehen sich zurück
Infolge der anhaltenden Kritik haben einige Schulen ihre Teilnahme an der Lentekriebels-Woche eingestellt. Wie RTV Utrecht berichtet, entschied sich etwa die Basisschool De Schakel in Utrecht dazu, das Programm abzusetzen, nachdem Eltern Bedenken geäußert hatten. Die Schule erklärte, dass manche Themen besser im familiären Umfeld als im Klassenzimmer behandelt werden sollten. Andere Schulen, die weiterhin mitmachen, äußern sich zunehmend zurückhaltend. RTV Utrecht berichtet weiter, dass selbst engagierte Lehrkräfte, die sich positiv zur Woche äußerten, von der Schulleitung gebeten wurden, keine öffentlichen Aussagen mehr zu machen. Der mediale und gesellschaftliche Druck ist spürbar – auch wenn viele Schulen an ihrer Linie festhalten.
Aufklärung statt Google: Warum frühe Sexualbildung wichtig ist
„Wir wollen nicht, dass das Internet unsere Kinder aufklärt“, sagt Elsbeth Reitzema vom Kenniscentrum Rutgers gegenüber RTV Utrecht. Denn wenn Kinder keine altersgerechten Informationen erhalten, suchen sie selbst nach Antworten – häufig online, wo Inhalte weder altersangemessen noch korrekt sein müssen. Die Lentekriebels-Woche will genau das verhindern: Kinder lernen, über Gefühle, Körper, Beziehungen und Grenzen zu sprechen. In der offiziellen Elterninformation wird betont, dass Kinder schon früh Fragen stellen – zum Beispiel, wie ein Baby entsteht oder was Verliebtsein bedeutet. Eltern sind dabei das erste Bezugssystem, aber Schule spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Das Ziel sei ein gemeinsames, offenes Gespräch – nicht eine Tabuisierung, wie Reitzema betont. Sexualbildung bedeutet eben nicht Frühsexualisierung, sondern frühzeitige Vorbereitung auf das Leben.
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